Inhalt
Britischer starbesetzer Thriller von Sidney Lumet aus dem Jahre 1974 nach dem gleichnamigen Roman von Agatha Christie. Hercule Poirot steht vor einem seiner schwierigsten Fälle: In einer eisigen Winternacht muss der Orient Express nach Istanbul anhalten und am nächsten Morgen wird die Leiche eines mit 12 Messerstichen ermordeten Multimillionärs aufgefunden.
Kritik
Auch wenn sie immer diesen leicht spießigen, biederen Kaffee-und-Kuchen-Krimi-Beigeschmack haben, die Adaptionen der Agatha-Christie-Geschichten („Der Wachsblumenstrauß“) haben ihr ganz eigenes, angenehmes Flair. Mordfälle mit einem cleveren Spürnase, unzähligen Verdächtigen aus der meist besseren Gesellschaft mit einem (mehr oder weniger) plausiblen Motiv um gegen die gute Etikette zu verstoßen, alles auf begrenzten Raum. Neben Miss Marpel zählt der belgische Detektiv Hercule Poirot zu den bekanntesten Schnüfflern im Christie-Universum. Bevor Peter Ustinov („Quo Vadis“) die Rolle ab den späten 70ern mehrfach verkörperte und somit fast unweigerlich mit seiner Person in Verbindung brachte, war es Albert Finney („Tödliche Entscheidung - Befor the Devil Knows You'are Dead") vergönnt, den berühmten Blitzmerker in der mit sechs Oscarnominierungen (auch für Finney) erfolgreichsten Verfilmung „Mord im Orient Express“ zu spielen.
Im Gegensatz zu der onkeligen Gemütlichkeit von Ustinov legt Finney seinen Poirot noch spleeniger und kauziger an; ein halsloser Fester-Addams-Verschnitt der trotz seiner ruhigen Ausstrahlung nicht so wirkt, als würde er dich gleich auf den Schoß nehmen und ein Sahnebonbon aus der Tasche zaubern. Eine schrullige und etwas interessantere Interpretation der Figur, obwohl jeder beim Namen Poirot reflexmäßig Ustinov vor Augen hat. Passend dazu scheint auch der Film von Sidney Lumet („Hundstage“) zunächst vom unbeschwerten Weg der späteren Verfilmungen abzuweichen. Ungewohnt düster fällt der Prolog aus, ebenso eine kurze Sequenz zum Schluss, an dem der Zuschauer nach langem Hin-und-Her selbst Zeuge des im Mittelpunkt stehenden Verbrechens wird. Dazwischen ist jedoch alles wie immer und das ist ja grundsätzlich nicht verkehrt: Ein lockeres Rätselraten und Detailsortieren mit Hercule Poirot, der einen Mord aufklären und dabei gleich einem ganzen Dutzend Verdächtiger auf den Zahn fühlen muss. Ein Staraufgebot ist bei Christie-Filmen nicht unbedingt ungewöhnlich, das hier ist bald obszön.
Klangvolle Namen wie Lauren Bacall („Tote schlafen fest“), Martin Balsam („Little Big Man“), Ingrid Bergman („Berüchtigt“), Jacqueline Bisset („Bullitt“) Jean-Pierre Cassel („Schmetterling und Taucherglocke“), Sean Connery („Jagd auf Roter Oktober“), Vanessa Redgrave („Das Geisterhaus“), Anthony Perkins („Psycho“), Michael York („Der Widerspenstigen Zähmung“) oder Richard Widmark („Das Urteil von Nürnberg“) stapeln sich bald in der Enge des noblen Gefährts. Ein Schaulaufen wie auf dem Roten Teppich, alles unter der Regie eines Meisters wie Sidney Lumet, klotzen statt kleckern ist das Motto bei „Mord im Orient Express“. Oder auch „Haben ist besser als Brauchen“, denn selbstverständlich kann der Einzelne aus dieser Masse nur schwer herausstechen, alle wollen schließlich ihre Screentime haben. Manche schaffen es dennoch durch ihre natürliche, erhabene Präsenz (Bacall), eine ausgesprochen gute Leistung (Bergman) oder hypernervöses Overacting (Perkins, der den Norman Bates plötzlich wieder aus seinem Repertoire kramt). Lumet selbst braucht auch nicht so wahnsinnig viel machen, das enorm redselige Geschehen und die volle Packung Hollywood regelt das schon so. In dem Ausmaß wirkt die individuelle Klasse aller Beteiligten leicht verschenkt. Ein Luxusproblem, aber dem Zuschauer kann das herzlich egal sein.
Unterhaltsam ist das Cluedo-Prinzip nach bewährtem Muster allemal. Dabei stört es nicht großartig, dass der Plot überkonstruiert ohne Ende und Poirots Kombinationsgabe reif für die X-Men ist, geschenkt, das gehört zu einem ordentlichen Christie dazu wie das Amen in der Kirche. Störender sind leider in der Faktenflut äußerst deutlich markierte Hinweise, die den Zuschauer etwas zu schnell auf die richtige Spur oder mindestens grob in einer klare Richtung schubsen, was der Auflösung ein gutes Stück an Überraschung nimmt (obwohl sie immer noch extrem unglaubwürdig ist). Dafür muss man selbst nicht zwingend ein Meisterdetektiv sein (wie und warum das alles zusammenpasst ist natürlich nicht ganz so simpel). Auch das soll einem nicht den Spaß an der Sache verderben, der fragwürdige Umgang mit der Pointe sollte aber zumindest mal erwähnt werden. Andere Filme bekommen bei gewissen Themen schnell von der Fraktion der Moralapostel einen aufs Dach, bei Agatha Christie scheint das niemanden zu interessieren. Auch nicht Poirot. Merkwürdig. In einem aktuellen Film ohne Klassikerschutz würde das bestimmt zur Debatte stehen.
Fazit
Ein Klassiker des Whodunnit-Krimis, keine Frage, nur nicht der verklärte Überhit, zu dem er gerne mit Nostalgie-Brille hochgejubelt wird. Prächtig ausgestattet, extravagant besetzt und trotz seines erhöhten Redebedarfs sehr kurzweilig vorgetragen. Mit den üblichen Christie-Krankheiten, die Fans wohl gerade sehen wollen. Wobei diese hier, speziell was die Glaubwürdigkeit angeht, extrem ausgeprägt sind. Und wie gesagt, mit einem Ende ausgestattet, über das man ruhig mal diskutieren kann.
Autor: Jacko Kunze