6.6

MB-Kritik

The Neon Demon 2016

Horror, Drama, Thriller – USA, France, Denmark

6.6

Elle Fanning
Karl Glusman
Jena Malone
Bella Heathcote
Abbey Lee
Desmond Harrington
Christina Hendricks
Keanu Reeves
Charles Baker
Jamie Clayton
Stacey Danger
Rebecca Dayan
Helen Wilson
Houda Shretah
Taylor Hill
Vanessa Martinez

Inhalt

Los Angeles - Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten, Glamourwelt, Schauplatz zahlloser Träume und Abgründe. Als das junge aufstrebende Model Jesse nach L.A. kommt, kann sie nicht ahnen, dass ihre Jugend und Lebendigkeit schon bald den Neid einer Gruppe schönheitsfanatischer Frauen auf sich ziehen wird. Und die scheuen keinerlei Mittel, um das zu bekommen, was Jesse hat...

Kritik

Diese Kritik wurde Tage nach der Pressevorführung verfasst und weist Zeichen der Verwirrung auf, die dort meinen Gemütszustand dominierten. Verwirrung, die sich nun aufgelöst und in Wohlwollen transformiert hat. Von einer Überarbeitung des Textes hab ich abgesehen - Ehrlichkeit ist das Gebot der Stunde.


Nicolas Winding Refn unterschreibt seine Werke gern mit seinen Initialen NWR. „Selbstverliebt“ schreit es da aus allen Ecken, wohl nicht zuletzt aufgrund diesen Vorwurfs wurde Refns - Verzeihung - NWRs Neuwerk The Neon Demon in Cannes ausgebuht. Prätentiöse Kunstheuchlerei, Style over Substance, unbedingter Stilwille ohne Inhalt. Das sind dabei alles Vorwürfe, die Refn bereits kennt, wurden sie doch auch damals laut, als sein Film Only God Forgives auf weitreichende Ablehnung bei den Filmfestspielen in Frankreich traf. Da letzterer trotzdem ein stilles Meisterwerk über Rache, Vergebung und Schuld geworden ist, durfte man durchaus hellhörig gespannt auf The Neon Demon sein. Und so darf man auch vorab ein paar erste kleine Fazits zu dem neuen Refn-Werk ziehen.

Erstens ist es - unabhängig vom Ergebnis - einfach schön, mal wieder einen Film von Refn im Kino sehen zu können. Die Möglichkeit eines solchen Erlebnisses bekommt man nicht alle Jahre. Und zweitens, um jenen Style over Substance-Krakelern schon von Beginn an den Wind aus den Segeln zu nehmen: Es gibt momentan nur einen Regisseur, dem es möglich ist, derartige Bilder zu destillieren. Nur ein Regisseur, der solche Filme inszenieren kann. Weshalb also sollte man Refn für das Böse sein, was er so gut macht, wenn er doch gleichzeitig der einzige ist, der dazu überhaupt im Stande ist? Solche Aussagen schrammen natürlich haarscharf an einer Carte Blanche für Refns Filme vorbei, aber das ist natürlich nicht Sinn und Zweck der Ausführung. Viel mehr soll bewusst werden, dass Kunst vielfältig ist. Ebenso wie Schönheit.

Doch kann man The Neon Demon nicht einfach jetzt mal ein Lob zukommen lassen? Kann nicht endlich mal jemand die negativen Stimmen aus Cannes diskreditieren und den vielen Refn-Fans damit die Last von der Seele nehmen? Leider geht das nicht, zumindest nicht endgültig. Refns neuer Film ist unglaublich schwer greifbar und doch überaus interessant. So interessant, dass hier nun die unbedingte Empfehlung herausgegeben werden soll: Schaut euch diesen Film im Kino an. Diese Aussage hat dabei nicht den Grund, dass hier ein verkanntes Meisterwerk schlummert (oder doch?). Vielmehr ist sie der Tatsache geschuldet, dass man einen solchen Film noch nicht im Kino gesehen hat und wahrscheinlich auch nie wieder sehen wird. Refn ist viel, aber nie langweilig, nie unaufregend. Er ist es immer wert, begutachtet und genau studiert zu werden.

Nun merkt man sicherlich, dass diese Kritik sich ein wenig davor drückt, präzise und konkret über The Neon Demon zu schreiben und das hat einen guten Grund. Der Verfasser dieser Kritik ist nicht auf Mund gefallen und redet im wahren Leben tendenziell zu viel als zu wenig. Aber hier ist er tatsächlich an den Rand seiner Möglichkeiten gekommen. Was soll man zu einem Film schreiben, der einem ziemlich wenig an die Hand gibt? Rein äußerlich ist der Film eine satirische Abrechnung mit der Model-Industrie und der Glamour-süchtigen, unmenschlich-perfektionistischen Welt der Laufsteg-Püppchen. Beauty isn’t everything, it’s the only thing. Nach eigener Aussage wollte Refn einen Horrorfilm ohne den Horror machen, einen Film über Schönheit. Wenn Gore, Kannibalismus und Nekrophilie nicht als Horror gelten, dann hat er das geschafft.

Der Film über Schönheit quillt dem Werk dabei aus jeder einzelnen Pore. Nicht nur, dass Refn hier immer wieder neue Wege findet, bekanntes darzustellen; der ganze Film sieht aus wie eine Hochglanzfotografie oberster Qualität. Schönheit ist dabei jedoch eine trügerische Eigenschaft. Sie kann sicherlich viel bewegen, sie kann zu Reichtum führen, sie kann das Leben eines Menschen bestimmen. Aber sie kann auch Laster sein. Dabei kommt natürlich zunächst Narziss aus der griechischen Mythologie in den Sinn, der sich in sein Spiegelbild verliebte. Spiegelbilder sind dabei ein Element in The Neon Demon, das Beachtung verdient; zunächst dient es dem Schutze, später der Versicherung und schließlich - es wurde angedeutet - wird zum schmerzhaften Laster. Doch die Gefahr der Schönheit kann auch von Dritten ausgehen. So zum Beispiel von Hank (Keanu Reeves!, John Wick), dem das Motel besitzt, in dem Jesse zunächst wohnt. Der wird von der Schönheit angezogen, doch kommt sie für ihn im Einklang mit einer sexuell-gewalttätigen Konnotation. Impulsartig macht er sich dran, sie zu zerstören.

Die Handlung des Films beschäftigt sich mit der jungen Jesse (zunächst wunderbar schüchtern: Elle Fanning, Trumbo), die zwar lange noch minderjährig ist, aber dieses undefinierbare gewisse Etwas hat. Ein Etwas, das ihr eine sehr erfolgreiche Karriere als Model verschaffen soll. Ein Etwas, das so wichtig und so unbekannt ist in der Rezeption von Kunst jeglicher Art. Misslingen hat immer Gründe, Gelingen immer ein Geheimnis. Jesse, die ganz nach dem gängigen Klischee aus einem kleinen Dorf in die Stadt der Engel gekommen ist (über Fotos, die sie als künstlerisch verzierte Leiche zeigen) kommt zunächst unter die Fittiche von Ruby (Jena Malone, Inherent Vice - Natürliche Mängel). Als Jesse und Ruby aufeinander treffen kommunizieren sie zunächst nur über ihre Spiegelbilder. Etwas später von Angesicht zu Angesicht und schließlich für den Zuschauer unverständlich; die Musik überdeckt ihre Worte. Ruby hat Jesse erfolgreich über die Schwelle ihrer moralisch korrupten Welt gebracht und Jesse ist willentlich gefolgt.

Die Geschichte von The Neon Demon ist dabei überaus simpel. Vielleicht zu simpel, möchte man da meinen, doch waren die äußeren Vorgänge in Drive und Only God Forgives auch nicht überaus kompliziert. Doch nutzte Refn diese einfachen Konstrukte für eine Geschichte der Liebe und menschlichen Größe im einen und über Rache und Sühne im anderen Fall. Der Stil, den Refn dabei angewandt hat, ist ein pulsierender Organismus. Vergleicht man dazu die Werke aus den Jahren 2011 und 2013 miteinander, wird eine Verdichtung der Ästhetik Refns deutlich. The Neon Demon ist eine weitere Steigerung ins Refn-esque. Hier wendet Refn seinen Stil jedoch weitaus exploitativer an, als in den beiden Vorgängerfilmen. So wird man den Eindruck nicht wirklich los, dass Refn sich auf einer Reise befindet, die in stilistischer Extremität enden wird. Wie weit er das alles treiben kann, wird sich in der Zukunft zeigen müssen.

Fazit

The Neon Demon ist ein Film, bei dem man unheimlich viel über einzelne Einstellungen sagen kann, während der Film einem unheimlich wenig im großen Ganzen an die Hand gibt. Unwirkliche Farbkontraste aus rot, blau und grün dominieren die Bilder, langsame, teils starre und sehr symmetrische Einstellungen gesellen sich hinzu. Die Farbkonstrukte definieren dabei nicht die Umwelt, sie sind gänzlich zur Umwelt der Figuren geworden. Ein Leben im expressionistischen Rausch, im aussehensbetonten Strudel der Unwirklichkeit. Man wird Zeuge der Geburt der totalen Ausbeutung. Das neue Refn-Werk ist überaus wild, in Stil und Inhalt gleichermaßen. Und so gesellen sich zu Momenten, deren Sinn sich einem nicht wirklich erschließen mag, auch einige Minuten, die vor Einfällen und NWR nur so übersprudeln. Da sind dann immer wieder Bilder auf der Leinwand zu finden, die es so nie wieder geben wird. Es sei denn, Refn macht es noch einmal. Für solche Momente lohnt sich das Kino-Ticket, denn dieses Gefühl der völligen Machtlosigkeit gegenüber Refns visueller Genialität ist unbezahlbar.

Autor: Levin Günther
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