„Die Schuld eines Menschen ist schwer zu wiegen. Wir streben unser Leben lang nach Glück. Aber manchmal verlieren wir uns und die Dinge gehen schief. Dann trennt uns nur noch das Recht vom Chaos. Eine dünne Schicht aus Eis. Darunter ist es kalt und man stirbt schnell.“
Die Erzählbände des deutschen Strafverteidigers Ferdinand von Schirach sind allesamt Bestseller. Kein Wunder, zeichnen sie doch wahre Ereignisse nach und sind hochspannend und kurzweilig geschrieben.
„Schuld“, das ist Ferdinand von Schirachs zweiter Erzählband. Schon früh sicherte sich das ZDF die Rechte an einer gleichnamigen Serie. Jede Kurzgeschichte, die einen in sich abgeschlossenen Kriminalfall behandelte, hat nun eine eigene Folge bekommen. Den großen Serienmachern in den USA folgend hat das ZDF schon vor Erstausstrahlung sämtliche Folgen im Internet veröffentlicht. Gerade für jede Zuschauer, die am liebsten alle Folgen hintereinander schauen. Und tatsächlich: Obwohl es keinen roten Faden gibt, der durch die Geschichten führt, möchte man schon während des Abspanns die nächste Folge sehen. Das liegt zum einen an der unverschämt guten Machart, die spannenden moralischen Geschichten sowie glänzend aufspielende Darsteller. Demnach war es auch keine Überraschung, dass die Serie ein großer Erfolg wurde.
Moritz Bleibtreu, längst international gefeierter Star, spielt nach 17 Jahren wieder in einer Fernsehproduktion mit. Er ist Friedrich Kronenberg, ein eher zurückhaltender und nachdenklicher Strafverteidiger, der den Zuschauer durch alle sechs Folgen führt. Jede Folge spielt in einem völlig anderen Milieu, hat eine ganz eigene Szenerie und Ausgangsbasis. Gezeigt werden Menschen in Ausnahmesituationen, die nicht so reagieren und funktionieren, wie es die Gesellschaft von ihnen erwartet. Da vergewaltigt eine zuvor noch gut aufgelegte Band auf einem Volksfest eine junge blonde Bedienung fast zu Tode. Ein gut situierter Ehemann erschlägt aus Eifersucht einen Widersacher mit dem Aschenbecher. Menschen, die dann vor einem Abgrund stehen und den Zuschauer in ein moralisches Dilemma bringen, denn die eine oder andere Szene geht selbst abgehärteten Krimischauern ganz gut an die Nieren, eben weil sich die Ereignisse tatsächlich auch so zutragen könnten (oder ähnlich zugetragen haben).
Dabei war es den Machern, unter anderem der Produzent Oliver Berben, wichtig, nicht die Auflösung eines Falls und die Recherchearbeit des Strafverteidigers in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die Tat und Täter und deren schuldrechtliche Beurteilung. Die sechs gut 45 Minuten langen Kurzfilme schaffen es den Zuschauer in einen Sog zu ziehen, dem man sich nur schwer entziehen kann. Die Tat ist dem Zuschauer von Anfang an bekannt, trotzdem bleibt die Handlung stets spannend und unterhaltsam, denn in interessanten Bildmontagen, oft über mehrere Zeitebenen hinweg, werden die Täter und ihre Beweggründe ausführlich beleuchtet. Oft bilden wir uns dabei ein eigenes moralisches Urteil über die Täter, das allerdings nicht mit der tatsächlichen Rechtsprechung übereinstimmen muss.
Gerichtsverhandlungen und Polizeirecherche haben wir in deutschen Serien schon zur Genüge gesehen, in „Schuld“ aber wird die Ursache der Tat Stück für Stück aus der Geschichte der Täter hergeleitet. Eine Qualität von Ferndinand von Schierach, der sich nach eigenem Bekunden nicht für die Frage nach dem Bösen interessiert, sondern für den einzelnen Menschen und seine Beweggründe und das transportiert auch die Serie auf ganz faszinierende Art und Weise.
„Schuld“ wird nicht den typischen Serienliebhaber befriedigen, denn weder entwickelt sich eine komplexe Geschichte à la True Detective, noch entwickeln sich die Charaktere. Trotzdem kann man die Serie, sofern man sie denn tatsächlich als solche bezeichnen kann, als großes deutsches Fernsehen bezeichnen, denn wie bereits erwähnt ist jede Folge für sich besonders und ganz anders (vielleicht auch "amerikanischer" inszeniert) als beispielsweise die sonntäglichen Tatortfilme. Mal steht eher die Vergangenheit im Fokus, mal die Gegenwart. Verhandlungen vor Gericht spielen glücklicherweise eine eher untergeordnete Rolle. Auch von der Dramaturgie sind die Geschichten völlig unterschiedlich aufgebaut und je nachdem wie man für sich selbst Gerechtigkeit definiert, begibt man sich auf eine emotionale Achterbahnfahrt. Verstehen kann man die menschlichen Abgründe, die sich auftun, oft nicht. Denn „Schuld“ stellt viele Fragen, beantwortet allerdings nicht alle und lässt Raum für Interpretation.
Herausragend sind vor allem die Folgen „Volksfest“, „Die Illuminaten“ und „Ausgleich“, bei den anderen fällt das Niveau etwas ab. Trotzdem sollten auch Krimiverweigerer hier einen Blick riskieren, zumal die ZDF-Mediathek jedem offen steht.
Was die Inszenierung anbelangt, so gibt es bei allen Kurzfilmen durchgehende Stilmittel, zum Beispiel symbolhafte Gegenstände, die von oben nach unten in Zeitlupe durch das Bild fallen und einen großen Einfluss auf die Handlung haben. Auch gibt es den wohl dosierten Einsatz von extremen Bildverfremdungen, fast schon zu traumartigen Szenen hin. Schnitt und Kamerafahrten passen immer perfekt zur jeweiligen Szene. Das trifft auch auf den ziemlich coolen Soundtrack zu.
Zu sehen bekommt man einige der besten(Jung-) Darsteller, die der deutsche Filme bzw. das Fernsehen derzeit zu bieten hat: Moritz Bleibtreu in der Rolle des Strafverteidigers Kronberg, Anna Maria Mühe (sehr berührend!), Alina Levshin, Bibiana Beglau, Devid Striesow, Hans-Michael Rehberg, Aylin Tezel, Jörg Hartmann, Max Hegewald und Misel Maticevic.
Bleibtreu spielt dabei angenehm zurückhaltend, fast schon nachdenklich, was auch an seiner Figur liegt. Er bleibt in emotional aufwühlenden Szenen ruhig und hält einige rhetorisch beeindruckende Plädoyers, schafft Aufmerksamkeit beim Zuschauer. Man hört und sieht ihm in dieser Rolle gerne zu. Er drängt sich nie in den Mittelpunkt und lässt stattdessen die anderen Darsteller brillieren. Kronberg ist letztendlich nur das Bindeglied zwischen den sechs Geschichten.