Inhalt
Eigentlich ist Gloria (Julianne Moore) ganz zufrieden mit ihrem Leben: Sie ist Mutter zweier erwachsener Kinder, temperamentvoll, geschieden und nur hin und wieder etwas einsam. Ihre Tage verbringt sie mit einem langweiligen Bürojob, ihre Nächte frei und ungezwungen auf der Tanzfläche von Single-Partys in den Clubs von Los Angeles. In einer dieser Nächte trifft sie Arnold (John Turturro) – genau wie Gloria geschieden und Single. Was wie eine abenteuerliche Bilderbuch-Romanze voller Erotik und Schmetterlingen im Bauch beginnt, muss sich schon bald wichtigen Themen des Lebens wie Familie, Beziehungsfähigkeit und Verbindlichkeit stellen. Ist Gloria bereit für eine neue Liebe, trotz des emotionalen „Gepäcks“, das ein neuer Partner mit in die Beziehung bringt? Oder hält das Leben vielleicht doch noch weitere Überraschungen für sie parat?
Kritik
Die im Zuge der Veröffentlichung und des irrsinnigen Erfolgs von The Lion King (2019) wieder aufgekochte Debatte um den (Nicht-)Sinn von 1:1-Remakes - eine, hinter die Gus Van Sant mit seiner Adaption von Psycho (1998) eigentlich bereits einen deutlichen Punkt gesetzt hatte - lässt sich in spannendem Ausmaß auf Sebastián Lelios Gloria Bell anwenden. Im Titel nur durch den Zusatz des Nachnamens der Protagonistin voneinander getrennt, lassen sich auf den ersten Blick nur wenig Unterschiede zwischen Lelios 2013 erschienener chilenischer Tragikkomödie Gloria und dem nun folgenden, US-amerikanischen Remake Gloria Bell ausmachen. Julianne Moores Begeisterung und potentielle Neuausrichtung der Figur soll Lelio dazu inspiriert haben, den Film für ein englischsprachiges Publikum selbst neu zu drehen. Herausgekommen ist ein Film, der die Vor- und Nachteile eines Remakes im faszinierenden Widerspruch eint.
Die Geschichte der 58-jährigen Gloria, Mutter zweier erwachsener Kinder und seit mehreren Jahren geschieden, wird von Lelio in sehr ähnliche und doch ganzen andere Bilder eingehüllt. Dialoge wie Kameraeinstellungen sind dieselben, aber die Gefühle, die sie erzählen, unterscheiden sich. Formalästhetisch bewegt sich Gloria Bell näher an Una mujer fantástica, dem Vorgängerfilm seines Regisseurs, als an seiner eigenen Vorlage. Die erdige, spröde Ästhetik des Originals weicht stilisierten, klangvollen Bildern, die für farbliche wie musikalische Räume für ihre Figuren entwerfen. Gloria Bell ist ein visueller erzählter Film als seine Vorlage, der seine Figuren dadurch präziser zu (be)greifen scheint, ihnen und ihrer Geschichte aber auch eine wunderbare Unmittelbarkeit raubt. Der naturalistische Blick auf Alltagssituationen wird stilisiert, die Oberfläche geglättet. Die ehrlichen Gefühle scheinen nicht mehr direkt aus den Bildern zu sprechen, sondern müssen erst durch leuchtendes Glas hindurchgespiegelt werden.
Das Darstellerensemble ist für diese andere Energie im entscheidenden Ausmaß mitverantwortlich. Julianne Moore (Still Alice) ist wie immer umwerfend, ihre Gloria eine nicht weniger aus dem Leben gegriffene Figur, der man die Katharsis ihres finalen Befreiungsmoments mindestens genau so gönnt wie Paulina García (Little Men). John Turturro in der Rolle des sensiblen, überfürsorglichen love interests ist vielleicht die spannendste Castingentscheidung des Remakes, und sie zahlt sich aus. Vielleicht mehr noch als Sergio Hernández (No!) weiß Turturro die liebevolle Befangenheit und trügerische Aufopferungsbereitschaft seiner Figur auszuspielen - sie scheint sich geradezu in seiner gekrümmten Körperhaltung, seinem ständig nach Bestätigung flehenden Gesichtsausdruck zu manifestieren. Verlieren tut der Film nur mit der Besetzung von Michael Cera in der Rolle von Glorias überfordertem Sohn, an dem die trockene Komik der Rolle leider verloren geht.
Ebenfalls verloren geht die Freizügigkeit des Originals, das hier an prüdere Sehgewohnheiten angepasst wird. Beinahe mit einem Augenzwinkern amerikanisiert Lelio die Geschichte mit kleinen Handgriffen. In beiläufigen Esstischgesprächen wird nun über amerikanische Waffengesetze diskutiert, in einem der wenigen hinzugefügten Momente lässt Gloria eine ihrer Arbeitskolleginnen an ihrer "economic anxiety" teilhaben. Wenn Lelio eine der vielen expliziten Sexszenen des Originals Bild für Bild übernimmt, aber auf die Nacktheit seiner Protagonistin verzichtet - obwohl gerade diese Entblößung einen großen Teil des erzählten Charaktermoments ausmacht - wirkt das beinahe schon wie ein mildes Zugeständnis, wie ein Schulterschluss mit Kennern der Vorlage. Genau wie der Film im Allgemeinen funktioniert dieser Moment noch immer hervorragend, aber er ist eben auch ein bisschen unehrlicher, ein bisschen weniger mutig und wahrhaftig.
Fazit
In den an die Sehgewohnheiten eines US-amerikanischen Mainstreampublikums angepassten Variationen von Geschichte und Ästhetik lässt Sebastián Lelio entscheidende Stärken seines Originalfilms zurück, findet dafür aber ganz neue. Vor allem das wunderbare Darstellerensemble verhilft "Gloria Bell" dazu, eine andere Energie zu entwickeln und als sinnvolles Remake Fuß zu fassen. Weiterhin gilt, wenngleich mit leichten Abstrichen: Um Filme wie Lelio zu drehen, muss man Menschen sehr genau beobachtet haben.
Autor: Nikolas Friedrich