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1990 war ein Jahr der Gangster- und Mafiafilme. Werke wie „GoodFellas“, „Der Pate III“ und die Gangsterparodie „Dick Tracy“ suchten die Leinwände heim. Alle drei konnten sich an Oscarnominierungen und weiteren gewonnenen Awards erfreuen. Ein Gangsterfilm jedoch erhielt ob deren Erfolgen nur mangelhafte Berücksichtigung bei Publikum und Preisverleihern: „Miller's Crossing“ von den Coen-Brüdern Joel und Ethan.
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Quelle: themoviedb.org

Kritik

Seit ihrem Debütfilm Blood Simple im Jahr 1984 haben die Gebrüder Joel und Ethan Coen stets Aufsehen erregen können, indem sie intelligente, eigen- und andersartige Genre-Modulationen schrieben, inszenierten und editierten. Mit Film um Film haben sie eine Welt in ihrer Filmographie aufbauen können, die einer klaren Weltsicht folgt und diese auf die Figuren überträgt. Das und der Umstand, dass sie volle künstlerische Kontrolle über ihre Filme haben, zeichnet sie als Autorenfilmer aus. Die Geschichte von Miller’s Crossing, ihrem dritten Filmwerk, fängt dabei bei Barton Fink, ihrem vierten Film an. Als die Coens während der Schreibphase von Miller’s Crossing nicht weiterkamen, machten sie eine Pause, schrieben dann nach einem Dammbruch erst Barton Fink und beendeten schließlich ihre Arbeit an diesem Retro-Noir. Zu den Verbindungen der beiden Filme später mehr.

Die Elemente des Film Noir, die in Farben, Formen und Feinheiten immer wieder in den Filmen der Coen-Brüder vorkommen, sind in diesem Film besonders deutlich. Tom Reagan (er stolpert hinterher: Gabriel Byrne, In Treatment) ist der „Held“ der Geschichte. Und er ist von Beginn an dabei, im Hintergrund, oberhalb der Brust abgeschnitten. Lässig lehnt er mit dem eben gefixten Drink, Whiskey on Ice zu Zeiten der Prohibition, an der Wand und hört zu. Andere Figuren haben das Wort und erzählen etwas von Ethik beim Manipulieren von sportlichen Wettkämpfen. Toms Leben wird sich in den nächsten zwei Stunden merklich auf wackeligen Beinen befinden. Man stelle sich einen Kreis aus Schlägern vor. Ein Mann ist in der Mitte und wird von Schläger zu Schläger mit Fausthieben und Kinnhaken „herumgereicht“. Der Mann in der Mitte ist Tom, er stolpert durch die Stadt, durch die Büros. Mal hört er sich das Geschrei an, mal ist es an ihn gerichtet. Mal bringt er andere zum Bluten, dann wieder blutet er. Er wirkt schlau, entpuppt sich aber nur als Klugscheißer.

Die Büros der kriminellen Elite ist mit reichem, dunklen, starken Holz eingerichtet. Holz, das aus dem Wald stammen könnte, den wir während der Titelsequenz sehen. Jener Wald, in dem ebenso viele Köpfe verscharrt sein könnten, wie in der Wüste vor Las Vegas. Köpfe, die dort durch jene Menschen hingelangt sind, die nun das schöne Holz im Büro haben. Im Vorspann sieht man einen Pfad im Wald; ein Hut weht in die Tiefe des Bildes davon. Der Hut, ein klares Zeichen des Film Noir, das Zeichen der Identität, des Maskulinen und der Stärke. Es ist dabei ein für die Coens typischer Humor, dass genau so ein Hut die Handlung voranbringt, da Tom auf der Suche nach seinem Hut ist - und das Verderben, bzw. die Liebe findet. Tom ist ein einsamer Mann. Man erfährt wenig über seine Vergangenheit, eine Zukunft scheint er auch nie zu haben. Auch weil sich beides in der Gegenwart vereint: Die Vergangenheit macht ihn zu dem, was er ist, die Zukunft ergibt sich aus dem, was er tut. Und wie lange er noch etwas tut.

Die Coen-Brüder nutzen die Begebenheiten um Tom mal als Surprise, mal als Suspense; einzige Konstante bleibt eigentlich der leer dreinblickende Gesichtsausdruck, der sich in Gedanken vertieft eine Zigarette anzündet. Er ist ein klassischer Teil der Noir-Welt, der Mann mit den sarkastischen Sprüchen, der tatsächlich auch vereinzelt die Oberhand zu haben scheint - nur um daraufhin mächtig auf die Fresse zu fliegen. „Nobody knows anybody“ ist einer von Reagans Sätzen, der zeigt, dass Freundschaft erstens relativ, zweitens ein Mittel zum Zweck ist und drittens viel zu viele Variablen besitzt, um als verlässlich zu gelten. Emotionale Verbindungen sind lediglich Taktik und Strategie, nicht nur für Tom, für alle anderen auch. Nur Tom scheint immer wieder darauf reinzufallen, was eine andere ihm vorgaukelt. Die Coens zeichnen hier schon erste Richtungsweiser gen Fargo, wo zwischen all den Morden und Grausamkeiten immer noch Zeit für Höflichkeit sein musste.

Eine der besten Szenen des Films ist dabei gleichzeitig eine der besten der gesamten Coen-Filmographie. Der Gangsterboss Leo (kurzfristig eingesprungen und formidabel: Albert Finney) liegt in seinem Bett und genießt Zeitung, Zigarre und Musik. Zwei feindliche Auftragsmörder schleichen sich rein, erwürgen einen Mann im Erdgeschoss und machen sich auf den Weg die Treppe hinauf, jeder mit einer Tommygun bewaffnet. Der Tote liegt auf dem Boden, seine Zigarre brennt ein Loch in ein Tischtuch. Leo sieht den daraus resultierenden Rauch durch seine Fußbodendielen aufsteigen. Er schlüpft in seine royalen Hauspuschen, greift seinen Revolver und verteidigt sich. Erst mit der Pistole, dann mit einer ergatterten Tommygun. Er schießt von draußen durch das Fenster in sein eigenes Haus. Unzählige Patronen fliegen durch die Wand, durch den Körper. Er schießt auf seine eigene Welt; Selbstverstümmelung im fälschlich angenommenen Dienste des Selbsterhaltes. Typisch Noir. Und Tom, Tommy(gun), hat eine ähnliche Zerstörungswut, zieht einen Radius, der alle um sich herum mitreißt. Wie Leo auf sein Haus schießt, schießt Tom mit jedem Schritt und jedem klugen Spruch auf seine eigene Seele.

Miller’s Crossing ist der dritte und letzte Film der Coen-Brüder, der von Barry Sonnenfeld photografiert wurde. Seitdem inszeniert Sonnenfeld selbst (zuletzt die Netflix-Serie Eine Reihe betrüblicher Ereignisse) und die Coens haben mit Roger Deakins einen außerordentlich begabten Nachfolger gefunden. Sonnenfeld findet hier für den Noir ungewöhnliche Bilder. Es regnet sehr selten (nur, nachdem die Welt ihren emotionalen Kern der garstigen Grausamkeit opfern muss), der Wald hat mit dem urban-geprägten Noir eigentlich gar nichts am Hut. Dennoch: Zwei Männer, einer kniet, einer steht. Später, ein Mann. Stehend. Später steht Tom vor dem Hauseingang zu seiner Apartment-Wohnung. Seine Figur wird zu einer ikonischen Silhouette gegen das Licht. Der Hauseingang nimmt die Stimmung vom nächsten Coen-Film, Barton Fink, vorweg (über der Tür steht gar „Bartons Arms“). Die Tür und alles, was dahinter ist, wird zur Bestie. Eine Bestie, die jeden, der eintritt, verschlingen wird.

Fazit

„Miller’s Crossing“ ist der dritte Film der Coen-Brüder, benannt nach dem Friedhof im Wald, wo Geheimnisse, Schuldige und noch mehr Schuldige begraben sind. Der Film folgt Tom Reagan, der ein paar mal zu oft die Wahrheit sagt. Die Wahrheit führt zur Gewalt, der Hut ins Verderben. Der Hut fliegt stets voran und die Männer versuchen, Schritt zu halten. Die Coen doppeln viele Kleinigkeiten in ihrem Film: Sätze, Bildelemente, ganze Szenen sogar. Nichts bleibt ungesühnt, nichts bleibt ohne Folge und vor allem bleibt in der Welt der Coens niemand unbefleckt von dem grausamen Schwarz der Schuld.

Kritik: Levin Günther

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