Er gilt als die allmächtige Mutter des Tier-Horrors, muss sich aber eingestehen, zwar nicht der erste, aber einer der innovativsten Vertreter dieses (Sub-)Genres zu sein: Alfred Hitchcocks Die Vögel. Natürlich gehört dieser Film zum cineastischen Grundwissen, und wer sich in der Vergangenheit etwas genauer mit Alfred Hitchcocks umfangreichen Œuvre auseinandergesetzt hat, der wird festgestellt haben, dass Vögel an und für sich keine ganz unwesentliche Rolle in vielen vorherigen Werken des Meisters gespielt haben. Man denke zum Beispiel nur an Psycho oder sein Opus magnum Vertigo – Aus dem Reich der Toten. Waren es in diesen Fällen allerdings nie lebendige Tiere, sondern ausgestopfte Exponate an der Wand oder eine edle Anstecknadel, geht Hitchcock mit Die Vögel, einer Adaption der gleichnamigen Kurzgeschichte der englischen Schriftstellerin Daphne du Maurier, in die Vollen: Die Welt scheint aus den Fugen geraten und das reichhaltige Angebot an Federvieh stürzt kamikazeartig vom Himmel herab, um dem Menschen Leid zuzufügen. Die Schnabelattacken bohren sich ins Fleisch, die Krallen ziehen tiefe Furchen und das Küstenstädtchen Bodega Bay versinkt in heillosem Chaos!
Die Frage, die man sich zwangsläufig angesichts dieser atypischen Vorfälle stellen muss, ist: Warum, zum Teufel, passiert das alles? Die Vögel - und das ist eine seiner Stärken, die der pressenden Atmosphäre des gesamten Bedrohungsszenarios wirkungsvoll in die Karten spielt – liefert darauf jedoch keine einheitliche Antwort, sondern denkt gleichzeitig in verschiedene Richtungen. Ist Die Vögel Hitchcocks legendäre Projektion einer metaphorische Vision der Apokalypse oder will der Film uns an unser ausbeuterisches Verhalten erinnern, mit dem wir das Tierreich für unser Pläsier instrumentalisieren? – Die wohl simpelste Leseart, aber gewiss nicht undenkbar, schließen sich beide Theorien in ihrer spezifischen Mystik doch gegenseitig überhaupt nicht aus. Man könnte Die Vögel allerdings auch als eine Allegorie auf das Familienwesen interpretieren, in dem sich Mitch Brenner (Rod Taylor) und vor allem seine dominante Mutter Lydia Brenner (Jessica Tandy) Platz für einen neue Person in ihrer Mitte machen, nämlich für die snobistische Melanie Daniels (Tippi Hedren). Sobald sich Melanie nämlich auf den Weg zum Wohnsitz der Brenners machen, beginnt das Grauen in Intervallen.
Erst ist es nur eine Möwe, die Melanie auf offener See verletzt, später nehmen die Flattermänner ganze Gebäude ein und verdunkeln im Schwarm den Himmel über Bodega Bay. Ironischerweise, denn auch Schmunzeln darf man gelegentlich bei Die Vögel, erfolgt das erste Zusammentreffen von Mitch und Melanie in einer vom permanenten Gezwitscher lautstark belebten Vogelhandlung. Die Vögel beschränkt sich schon bald auf einen Schauplatz und hat mit Bodega Bay nicht nur eine klare räumliche Begrenzung geschaffen, der weder Zuschauer noch Protagonisten entfliehen können, sondern auch eine zeitliche, was die Stimmung nachhaltig verdichtet. Dass Die Vögel als Musterbeispiel in Sachen 'Spannungsaufbau' genannt wird, darf sich bestätigen lassen: Es ist von einer außerordentlichen inszenatorischen Raffinesse gezeichnet, wie Hitchcock es schafft, die Bedrohung zu entfalten, in dem er, Schritt für Schritt, Stufe für Stufe, extremere Mittel findet. Da wird in seinem charakteristischen Suspense ein Moment bis ins Unerträgliche ausreizt, in dem wir das Grauen im Rücken von Tippi Heldren erkennen.
Im nächsten Augenblick stürzen die Krähen dann los und machen sich über eine Schulklasse her, die Flügelschläge hämmern sich wie ein Mantra in das Gedächtnis des Zuschauers, alltägliche Situationen werden nach der Konsumierung von Die Vögel in einem neuen Licht erstrahlen, ist der Film doch in seinem Narrativ so famos reduziert, dass er es erst gar nicht für nötig achtet, hemmende Subplots in das Geschehen einzustreuen und die Effektivität so vielleicht ein Stück weit zu brechen. Wenn eine Ornithologin, ein religiöser Fundamentalist, eine Rationalistin und einige Schisshasen in einer Kneipe über die womögliche Aggressivität der Vögel debattieren, dann darf erneut geschmunzelt werden, bis, und so flüssig wechselt Hitchcock die Tonalität wiederholt, schon mit einem Wimpernschlag der Schrecken erneut über die Anwesenden einbricht. Ein großer Film, zweifelsohne ein Meisterwerk. Und das letzte Lob hat sich nicht nur die suggestive Synthesizer-Partitur verdient, durch die Die Vögel ohne klassische musikalische Untermalung auskommt, sondern die Tierdresseure, die wirklich ganze Arbeit geleistet haben. Hut ab!