Ist Chris Hemsworth ein Actionstar? Natürlich sind seine Auftritte als Donnergott Thor in den Filmen des Marvel Cinematic Universe vollgepackt mit Action, doch das verpasst dem Australier nicht zwangsläufig die Ausstrahlung, die für den Status eines Actionstars benötigt wird. Abseits der Blockbustermaschinerie von Disney spielte er erst in ein, zwei Filmen mit, die sich im Sektor des Actiongenres aufhielten. Doch weder Michael Manns Blackhat noch das Militärdrama Operation:12 Strong hatten genug Wirkung, um den Namen Chris Hemsworth wirklich in den Sphären eines Actionstars zu heben. Doch das könnte sich nun ändern.
In dem Spielfilmdebüt von Regisseur und Stunt-Profi Sam Hargrave spielt Hemsworth Tyler Rake, einen Söldner und Archetypen. Dieser Rake, das macht der Film ohne Umwege klar, ist ein gebrochener Mann: er säuft, sehnt sich nach dem Tod, ist furchtlos und in seinem Beruf einer der Besten. Eine Beschreibung, die auf dutzende Actionhelden passt. Selbstverständlich ist das nicht innovativ, aber der Zweck heiligt die Mittel und Hemsworth nimmt man diesen Tyler Rake (was für ein Name!) ab. Wirklich viel über seine Motivation und seinen Charakter nachdenken muss man aber nicht, denn relativ zügig kommt Hargrave zum Kern seines Films: Action.
Diese ist in Bangladesch angesiedelt, was durchaus etwas Erfrischendes hat. Die engen, verschlungenen Gassen, die feucht-flirrende Hitze und staubigen Straßen sind ein vielseitig nutzbares Setting und in mancher Szene die heimlichen Stars der Netflix-Produktion, die auf einer Graphic Novel namens Ciudad basiert, bei u. a. der Avengers 4: Endgame-Co-Regisseur Joe Russo involviert war. Russo machte aus der Vorlage schließlich sogar ein Script und produzierte Tyler Rake: Extraction. Wahrscheinlich werden Joe Russo und sein Bruder Anthony noch öfters mit dem erfolgreichen Streamingdienst zusammenarbeiten. Ihr Crime-Drama Cherry mit Tom Holland könnte dieses Jahr bei Netflix an den Start gehen.
Bei Cherry wie bei Tyler Rake: Extraction dabei ist Kameramann Newton Thomas Sigel. Der fokussierte seine Linse zuvor bei großen Produktionen wie X-Men 2, Crouching Tiger, Hidden Dragon: Sword of Destiny oder Drive und kann auf eine langjährige Karriere zurückblicken. Mit Tyler Rake: Extraction gelang ihm nun aber sein bisheriges Sahnestück. Wie er die Netflix-Produktion einfängt, ist famos und damit kommen wir zu dem, was den Film so grandios macht: die Action! Man merkt, dass Regisseur Hargrave aus dem Stuntfach kommt. Was der US-Amerikaner hier in Sachen Action abliefert, ist Spitzenqualität. Die Gefechte, ob nun mit bloßen Händen, Messern oder Schusswaffen, erinnern an John Wick, der mit seiner Form der Action vor fünf Jahren quasi einen neuen Trend losgetreten hatte.
Anders als bei John Wick und seinen (herrlich) überzogenen Sequels, geht es bei Tyler Rake: Extraction aber eine deutliche Spur weniger elegant, dafür ruppiger und zackiger zu. Doch auch hier agiert der Held effizient. Es geht nicht darum, große Flick Flacks zu vollführen oder artistisch Kugeln auszuweichen. Es geht ums pure Überleben. Wenn Chris Hemsworth und sein Paket Ovi (Newcomer Rudhraksh Jaiswal) also durch Dhaka hetzen, verfolgt von Gangstern, korrupten Polizisten und Spezialeinheiten, generiert dies eine Dringlichkeit, die dem Film nach kurzer Zeit eine Kraft einverleibt, die selbst dann bestehen bleibt, wenn Tyler und Ovi mal längere Zeit verschnaufen können und auch als Zuschauer sehnt man sich nach der einen oder anderen Actionszene nach etwas Ruhe.
Das gilt vor allem nach dem inszenatorischen Herzstück des Films: eine fast 15minütige One-Take-Actionszene, die nur eine Reaktion verursachen kann: Wow! Es beginnt als Autoverfolgungsjagd, wird zu einem Katz-und-Maus-Spiel in einem Wohnhaus und endet mit einem Straßenkampf. Diese Szene ist einfach nur fulminant. Sie darf und sollte als Referenzwert für gute Action genutzt werden, denn hier stimmt wirklich alles. Natürlich kann man als extrem aufmerksamer Zuschauer schnell herausfinden, wo die geheimen Schnitte gesetzt wurden, aber wer will sich schon den schweißtreibenden Spaß dieses Genre-Prunkstück verderben? Höchstens diejenigen, die verächtlich auf Actionfilme schauen, aber denen ist eh nicht zu helfen.
Ein weiterer Grund warum die Action so großartig ist, liegt neben der Inszenierung auch an dem in unseren Breitengraden eher unbekannten Darsteller Randeep Hooda (Once Upon a Time in Mumbaai), der als Saju ein hartnäckiger Verfolger von Tyler und Ovi ist. In manchen Momenten erinnert sein Auftreten fast schon an eine Mischung aus dem Terminator oder Rama aus The Raid: Er kämpft und jagt immer weiter, bis zur absoluten, körperlichen Auslaugung. Warum er dies tut? Dafür hat der Film eine einfache aber effiziente Motivation parat, aber genau wie bei Tyler Rake, sollte man auch hier nicht darauf hoffen, dass Regie und Drehbuch sonderlich in die Tiefe gehen.
Ein weiterer Aspekt von Tyler Rake: Extraction ist ein Blick auf die kriminellen Strukturen von Dhaka. Der örtliche Gangsterboss schickt nämlich neben seinen Handlangern vor allem Kinder und Jugendliche auf die Suche nach Tyler und Ovi. Daraus hätte etwas Interessantes entstehen können, doch leider fehlt eine wirklich klare Ausformulierung. Was bleibt, sind einige durchaus schockierende Szenen (wenn ein eiskalter Gangsterboss ein paar Straßenkindern eine Lektion erteilt, endet dies nicht mit einem erhobenen Zeigefinger) und das Gefühl, dass die Macher durchaus mehr im Sinn hatten als ein reinrassiges Actionfest. Das ehrt sie, aber nach der Sichtung von Tyler Rake: Extraction ist es eben doch die Action, die überaus positiv im Gedächtnis haften bleibt. Zurecht. Diesbezüglich ist der Netflix-Film referenzwürdig.