Joe Gardener (in der US-Fassung gesprochen von Oscar-Preisträger Jamie Foxx) hat den vielleicht schönsten Tag seines Lebens. Nicht etwa, weil er endlich ein Angebot der Schule hat, die ihn als Vollzeitlehrer beschäftigen wollen, sondern weil er von der bekannten Musikerin Dorothea Williams (Angela Bassett, Mission: Impossible - Fallout) engagiert wurde, für sie als Pianist zu arbeiten. Doch so schnell das Glück kam, so schnell scheint es Joe auch zu entrinnen. Nach einem Sturz in ein Kanalloch befindet sich Joe, bzw. seine Seele in einer seltsamen Welt wieder. Diese ist eigentlich nur eine Schleuse ins Jenseits, doch weil der Musiker sich weigert sein Schicksal zu akzeptieren, findet er sich nach einem weiteren Sturz dort wieder, wo Seelen sich entwickeln, bis sie reif sind, sich an ein Leben zu binden. Joe befindet sich im Great Before und scheint hier auch nicht so schnell wegzukommen.
Alleine in den ersten Momenten, wenn wir Joe in seiner Seelenform im Great Before sehen, wird deutlich, dass Pixar in Sachen Animationsfilm immer noch zu den ganz Großen gehört. Wie hier mit geometrischen Figuren, Haptiken und Linien gespielt wird, ist so kreativ wie fantasievoll. Dass sich die Macher von Soul dazu nicht lange mit Vorgeplänkel beschäftigen, führt dazu, dass ihr neustes Werk ein niemals gehetztes aber angenehm temporeiches Pacing besitzt, bei dem immer noch genügend Raum für kleine und große Details bleibt. Dies behält sich der Film auch bei, wenn Joe auf 22 (Tina Fey, Muppets Most Wanted) trifft, eine Seele, die sich weigert ihre, nennen wir es, Ausbildung abzuschließen. Joe und 22 werden zu einem unfreiwilligen Duo. Eine Mechanik die alles andere als neu ist, aber bei Soul wunderbar funktioniert.
22 fungiert für Joe sowie für uns Zuschauer als Führerin durch diese absonderliche Welt und lässt keinen Moment aus auf ironische Art und Weise alles zu kommentieren, was sich dafür anbietet. Es heißt gut aufpassen, nicht etwa, weil es besonders komplex ist, was in diesem seltsamen Universum vor sich geht, sondern mehr, weil das Script von Regisseur Pete Docter (Die Monster AG), seinen Co-Regisseur Kemp Powers und Autor Mike Jones hier vielleicht zu ruhelos die Regularien des Great Before durchkaut. Vor allem jüngere Zuschauer könnte das überfordern. Ältere Semester erfreuen sich derweil an einigen wirklich schönen Momenten und Zitaten:
„You can‘t crush a soul here. That's what earth exists for.“
Im zweiten Akt überrascht Pixar dann sein Publikum, denn was folgt war vorab aus den diversen Trailern und anderen Werbematerialien nicht ersichtlich, weswegen wir nicht genau darauf eingehen wollen. Nur so viel: Der Film lässt das Great Before für sehr lange Zeit hinter sich, um einen Fish-out-of-Water-Plot zu folgen. Dieser Abschnitt von Soul ist wahrscheinlich der am wenigsten genuine, wenn auch der mit der größten Gagdichte. Merke: Katzen gehen immer.
Aber auch hier bleibt der Film seiner philosophischen Thematik treu: Was zeichnet uns aus? Wann macht unseren Charakter? Was ist der Sinn unseres Lebens? Gewiss wird dies sehr rudimentär sowie vereinfacht behandelt, aber in Anbetracht, dass Disney natürlich keine Professoren als Zielpublikum hat, sondern eine breite Masse ansprechen will, die vom Vorschüler bis zum Rentner reicht, ist ihr eher amateurhafter Umgang mit diesen existenzialistischen Fragen absolut verständlich und durchaus gelungen – auch wenn die Botschaft am Ende dann doch eher Glückskeksweisheit als wirklich erhellend ist.
Dargeboten wird dies auf technischer Ebene in der gewohnt hochklassigen Pixar-Qualität und musikalisch mit einem feinen Jazz-Score von Atticus Ross und Trent Reznor garniert. Die einst für The Social Network einen Oscar erhielten und seit dem immer wieder bewiesen, dass sie in Sachen Filmmusik sehr wandlungsfähig sind. So stammt von den beiden auch der grandiose Score von David Finchers Mank, der Anfang Dezember bei Netflix gestartet ist.
Bleibt eigentlich nur zu sagen, dass Pixar erneut einen Animationsfilm abgeliefert hat, der nach mehr aussieht und sich nachwirkender anfühlt, als viele andere. Immer wenn das Studio mit der kleinen Schreibtischlampe als Maskottchen sich an einem originären Stoff wagt, kommt dabei meistens etwas Gutes raus. Soul ist dafür der erneute Beweis. Vielleicht ist der Film nicht ganz so emotional wie Coco - Lebendiger als das Leben, nicht ganz so mutig wie Wall-E - Der Letzte räumt die Erde auf oder nicht ganz so verspielt wie Alles steht Kopf, aber dennoch gehört er in einer Reihe mit diesen Titeln.