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Cannes 2024

von Patrick Fey

Wenn sich die großen Vertreter*innen der Filmindustrie am Dienstag, dem 14 Mai 2024, einmal mehr in der französischen Riviera versammeln, um mit Quentin Dupieux‘Le Deuxième Acte das 77. Festival de Cannes zu eröffnen, dürfte sich ein beträchtlicher Anteil der Konversation um die ominöse Liste drehen, von der seit Tagen die Rede ist. Auf dieser sollen sich die Namen eines guten Dutzends französischer Schauspieler, Regisseure und Produzenten befinden, die der sexuellen Belästigung beschuldigt werden. Dies geschieht wenige Monate, nachdem die französische Schauspielerin Judith Godrèche im Februar öffentlich die Filmemacher und Schauspieler Benoît Jacquot und Jacques Doillon der Vergewaltigung anklagte. In den späten 1980ern war Godrèche als Vierzehnjährige mit dem damals 39-jährigen Jacquot in einer romantischen Beziehung — im Zuge derer er sich ihr ohne Einverständnis aufgedrängt haben soll. Und Doillon, für dessen Film The 15 Year Old GirlGodrèche einst vor der Kamera ein Mädchen spielte, das sich in den Vater ihres Freundes verliebt, soll sich gar mit Gewalt sexuell an ihr vergangen haben. Dass Godrèches neuer Kurzfilm über die Me-too-Bewegung, Moi aussi, im Rahmen der „Un Certain Regard“-Sektion Premiere feiert, dürfte die Diskussionen zusätzlich beleben.

In Frankreich, das seit Jahren im Ruf steht, an einer ernsthaften Aufarbeitung der sexuellen Übergriffe und Gewalt innerhalb der Filmbranche nicht interessiert zu sein, kommen diese Anschuldigungen besondere Bedeutung zu. Man denke nur an das öffentliche Statement des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zurück, der im Dezember vergangenen Jahres bezüglich der wiederholten Anschuldigungen der Vergewaltigung und sexueller Übergriffe gegen den französischen Schauspieler Gérard Depardieu zu Protokoll gab, er werde sich nicht an einer Hexenjagd beteiligen; dass er, weiter, ein großer Verehrer Depardieus sei, und dass dieser Frankreich stolz gemacht habe. Die Macron’sche Liebesbekundung Richtung Depardieu beschreibt ganz gut die reflexhafte Abwehr, mit der die Filmindustrie allzu oft solchen Anschuldigungen begegnet. Wo es ansonsten doch immer heißt, es gelte die Unschuldsvermutung, so wird diese hier ausschließlich dem Beschuldigten zugestanden, während die nach eigener Aussage betroffenen Frauen (zumeist sind es Frauen) der Hexenjagd beschuldigt werden.

Ob nun diese Liste, so sie denn während der Filmfestspiele veröffentlicht wird, tatsächlich „explosives“ Potenzial hat, wie es an einigen Stellen hieß, bleibt abzuwarten. Denn genauso wie Cannes der Ort ist, an dem sich soziopolitische Skandalen schnell entzündet, so rasch verdampfen diese zumeist angesichts der geballten Aufmerksamkeit auf den roten Teppich und die Stars, die diesen entlangschreiten. So geschehen etwa im Vorjahr, als die umstrittene Regisseurin Maïwenn mit ihrem historischen Film Jeanne du Barry, in dem Johnny Depp die Hauptrolle spielte, das Festival eröffnete. War im Vorfeld noch viel über die Depp gerichtlich nachgewiesenen Fälle häuslicher Gewalt die Rede, strahlte der Stern Johnny Depps an der Croisette bald heller als jeder Funke kritischer Reflexion. Doch wer wollte sich ernsthaft wundern über diesen Grad an Opportunismus? Sollte das Pendel dennoch in die entgegengesetzte Richtung umschlagen und im Festival vertretene Filmschaffende ins Fadenkreuz der Presse geraten, so zeigt sich das Festival gerüstet, notwendige Konfrontationen einmal mehr wegzuwischen: Laut der konservativen Zeitung Le Figaro habe die Festival-Präsidentin Iris Knobloch bereits ein auf Krisenmanagement spezialisiertes PR-Team engagiert. Doch wer hatte schon erwartet, dass sich das Festival um eine direkte Konfrontation bemühen würde.

Allzu oft allerdings sind diese vermeintlichen Skandale im Laufe der vergangenen Jahre im Sande verlaufen.  Ähnlich verhält es sich mit den Streiks, die jährlich im Vorfeld des Festivals angekündigt werden, um dann, an den Rand der Hafenstadt, quasi-ausgelagert zu werden, um die Festivitäten nicht ernsthaft zu stören. Umso bemerkenswerter wäre eine tatsächliche Umsetzung der angekündigten Streiks der Hunderten Festivalmitarbeiter*innen vom Kollektiv Sous les écrans la dèche. Diese hatten bei einem kürzlichen Zusammentreffen mit dem Festival-Management wiederholt auf die prekären Arbeitsbedingungen der zumeist in Kurzarbeit eingestellten Arbeiter*innen verwiesen und ihre Kolleg*innen zu einem Walkout während des Festivals aufgefordert, um die Leitung um Iris Knobloch und Thierry Frémaux unter Druck zu setzen. Für eine Veranstaltung wie Cannes, deren jedes Screening auf die Sitzanweiser*innen und Taschen- sowie Ticket-Kontrolleur*innen angewiesen ist, würde ein solcher Walkout den gesamten Ablauf des eng getakteten Festivals durcheinanderbringen.

Mit dem Programm selbst präsentiert sich das Festival an der Côte d'Azur gewohnt namhaft, wenngleich das Lechzen nach den großen Hollywood-Stars während der letzten Jahre besonders stark ins Auge fällt. Das beginnt bereits mit der Jury, für deren Präsidentschaft Greta Gerwig gewonnen werden konnte, deren Barbie im Vorjahr die meisten Dollar am Box Office umsetzte. Und es setzt sich fort mit Masterclasses mit Meryl Streep und George Lucas, die jeweils zu Beginn und Ende des Festivals mit der goldenen Ehrenpalme ausgezeichnet werden. Zudem konnte Cannes das Tauziehen mit Venedig und Toronto um Francis Ford Coppolas selbstfinanziertes Herzensprojekt Megalopolis für sich entscheiden. Weniger überraschend, dass das Festival an der Croisette dieses Wettbieten für sich entscheiden konnte, dürfte indes Coppolas Entscheidung anmuten, im Wettbewerb anzutreten — ganz im Gegensatz etwa zu Martin ScorsesesKillers of the Flower Moon, der im Vorjahr den meisterwarteten Titel des Festivals darstellte und entsprechend mit dem prominentesten Festival-Slot bedacht wurde. Somit greift Coppola in diesem Jahr nach seiner zweiten Goldenen Palme, die er 1979 für Apocalypse Now erhielt (in einer seltenen Ex-Aequo-Entscheidung wurde Volker SchlöndorffsDie Blechtrommel im selben Jahr ebenfalls die Goldene Palme zuerkannt).


Neben dem Coppola’schen Epos, über das kaum mehr bekannt ist, als dass Adam Driver einen Architekten spielt, der in Folge einer Katastrophe den Wiederaufbau New York Citys in Angriff nimmt, findet sich mit Paul Schraders Oh, Canada auch der neue Film eines alten Weggefährten im Wettbewerb. Dessen künstlerische Wiederauferstehung durch die thematisch lose Trilogie First Reformed, The Card Counter, und Master Gardener findet nun in Oh, Canada ihre Fortsetzung. Denn wenn man die Beschreibung des Filmes liest, drängt sich unmittelbar der Eindruck auf, als setze sich die Filmreihe einfach fort. In der Geschichte um den fiktiven Dokumentar-Filmemacher Leonard Fife, der einst nach Canada geflohen war, um während des Vietnam-Kriegs dem Einzug durch das Militär zu entgehen, erklärt sich der sich in seinen späten 70ern befindliche Fife zu einem finalen Interview bereit, um der eigenen Mythenbildung entgegenzuwirken. Richard Gere wird als gealterter Fife der Gegenwart zu sehen sein, während Jacob Elordi (Priscilla) in Rückblicken den jüngeren Fife mimt.


Außerhalb des Wettbewerbs sticht freilich George MillersFuriosa: A Mad Max Saga heraus, dass die Herkulesaufgabe antritt, einen der meistgefeierten Actionfilme des 21. Jahrhunderts — Mad Max: Fury Road — zu beerben. Auf Tom Hardy und Charlize Theron in den zentralen Rollen folgen nun Anya Taylor-Joy und Chris Hemsworth. Wenngleich sich Cannes hier die Weltpremiere auf die Fahne schreiben darf und überdies die langjährige Freundschaft zum mittlerweile immerhin 79-jährigen Miller pflegt, so handelt es sich doch vor allem um ein Sprungbrett für Warner Bros., läuft die erneute Wahnsinnsfahrt durch postapokalyptische Wüstenlandschaften doch nur eine Woche nach der Weltpremiere an der Côte d'Azur weltweit im Kino an. Ebenfalls außer Konkurenz und durch die Wüste führt uns Kevin Costner, der hier mit seiner ersten Regiearbeit seit 21 Jahren Horizon: An American Saga, den Startschuss für sein (bis jetzt) vierteiliges Western-Epos gibt.


In der medialen Wahrnehmung eine ganze Nummer kleiner kommt da eine Anzahl von Wettbewerbstiteln daher, nach denen sich die Freund*innen des Arthouse-Kinos die Finger lecken dürften. Sean BakersAnora etwa, ein weiteres Projekt, das der für seinen sozialen (und bisweilen magischen) Realismus bekannte gebürtige New Jerseyite eingeschoben hat, nachdem sein von langer Hand geplantes Großprojekt über den sozialen Aktivismus in Vancouver zur Drogen-Entkriminalisierung während der Pandemie auf unbestimmte Zeit auf Eis gelegt wurde. Dass Baker in der Folge mit dem spontan gedrehten Red Rocket den vielleicht gelungensten Film seiner Karriere hervorbrachte, dürfte Mut machen, dass dieser Karriererückschlag keine kreativen Narben hinterlassen hat. Seiner losen Sex-Worker-Trilogie (Tangerine, The Florida Projekt, Red Rocket) fügt er mit Anora nun ein weiteres Kapitel hinzu, das überdies mit beinah zweieinhalb Stunden Laufzeit den bisher längsten Film Bakers darstellt. In der schwarzen Komödie folgen wir der von Mikey Madison gespielten Sexarbeiterin Ani, die einen russischen Oligarchen heiratet — ein Bündnis, das dessen Eltern besser früher als später aufgelöst sehen wollen.

Traditionell verwandt mit den sozialrealistischen Sensibilitäten Sean Bakers ist das Werk der Britin Andrea Arnold, die mit Bird ihr langersehntes Spielfilm-Comeback feiert (American Honey, Arnolds letzter fiktionaler Film, liegt bereits acht Jahre zurück). Beinah standesgemäß, möchte man da sagen, erhält Arnold den Ehrenpreis Carrosse d'Or der „Quinzaine des Cineastes“-Sektion. Ihr neuer Film, Bird, schickt sich mit Barry Keoghan und Franz Rogowski in den Hauptrollen als eine Rückkehr zur Form an, steht mit der von Nykiya Adams gespielten Bailey doch, wie etwa in Fish Tank, eine Jugendliche im Zentrum, die von einem alleinerziehenden Vater aufwächst. Beim Stichwort „Rückkehr zur Form“ scheint es indes unvermeidlich, auf Yorgos Lanthimos zu sprechen zu kommen, dessen Kinds of Kindness, trotz abermaliger Starbesetzung (neben der erneuten Zusammenarbeit mit Emma Stone , Willem Defoe und Margaret Qualley finden sich Jesse Plemons und Hong Chau im illustren Ensemble) vielerorts als Rückkehr zum radikaleren Kino des frühen Lanthimos beschrieben wurde. Es bleibt abzuwarten, inwiefern der dreiteilige Anthologiefilm beim Publikum Zuspruch findet, gelten diese segmentierten Geschichten doch oft als Box-Office-Gift.


Ebenso stargespickt, und so steht zu erwarten, ebenso merkwürdig dürfte es in Rumours zu sich gehen, dem neuen Film des kreativen Dreigespanns Guy Maddin, Evan Johnson, und Galen Johnson, der außer Konkurrenz läuft. Darin spielen unter anderem Cate Blanchett, Alicia Vikander sowie Charles Dance die Staatsoberhäupter eines G7-Gipfels, die sich, während sie daran arbeiten, eine globale Krise zu bekämpfen, im Rahmen einer solchen Zusammenkunft in den Wäldern verirren.

Mit David Cronenbergs autobiografischem The Shrouds (indem Vincent Cassel Cronenberg augenscheinlich nachempfunden wurde) verarbeitet der Großmeister, wie es heißt, den Tod seiner 2017 verstorbenen Ehefrau Carolyn Zeifman (deren fiktionalisierte Version von Diane Kruger gespielt wird). Neben dem Kanadier Cronenberg wird das international weit aufgestellte Tableau durch Beiträge vom chinesischen Auteur Jia Zhangke (Caught by the Tides), dem russischen Cannes-Dauergast Kirill Serebrennikov (Limonov: The Ballad), der Inderin Payal Kapadias und ihrem Nachfolgeprojekt zum von der Kritik gefeierten A Night of Knowing Nothing, All We Imagine as Light, den Iranern Ali Abbasis (dessen Period Piece The Apprentice über den jungen Donald Trump sich anschickt, für Diskussionen zu sorgen) und Mohammad Rasoulof (der kürzlich angesichts einer sich anbahnenden achtjähren Haftstrafe aus seiner Heimat floh; in Cannes hofft man nun, dass Rasoulof zur Weltpremiere seines Filmes The Seed of the Sacred Fig zugegen sein kann) sowie dem Italiener Paolo Sorrentino (Parthenope) und dem portugiesischen Auteur Miguel Gomes bereichert. Traditionell stark formiert sind überdies die französischen Regisseur*innen: Jacques Audiards Emilia Perez, Gilles Lellouches L’Amour Ouf, Coralie FargeatsThe Substance sowie Michel Hazanavicius Animationsfilm The Most Precious of Cargoes treten um die erste französische Goldene Palme seit Julia DucournausTitane an.

Lida Bach, Jakob Jurisch und Patrick Fey werden diesen Wettkampf während der kommenden zwölf Festivaltage ganz genau im Auge behalten und mit Kritiken und Podcast-Episoden begleiten.

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